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  13:39 Uhr / 19. April 2024 

Berufliche „Karriere“ von †Gisela Mörling

Geboren wurde ich 1960 in einem kleinen Dorf im südlichen Niedersachsen an der Grenze zu Nordrhein-Westfalen. Gleich nach meiner Geburt kam ich ins Krankenhaus nach Minden. Vielleicht daher schon meine Zuneigung zu dieser Stadt.

Nun, ich bin herzkrank. Ventrikel-Septum-Defect. Außerdem Probleme mit der Wirbelsäule (Klippel-Feil-Syndrom, u. a.). Meine Schulzeit verlief relativ normal. Eingeschult wurde ich mit sieben Jahren in der Grundschule, ein Jahr Gymnasium und dann kam meine erste Herzoperation. Leider ist zu dem Zeitpunkt einiges unglücklich gelaufen. Jedenfalls, die Operation hatte nicht den gewünschten Erfolg. Auf dem Gymnasium kam ich nicht mehr mit und so meldeten meine Eltern mich ein Jahr später in der Hauptschule an. Ich wäre gern zur Realschule gewechselt, aber meine Eltern wollten lieber auf „Nummer Sicher“ gehen. Die Hauptschule bewältigte ich mit Leichtigkeit.

Aber jetzt wurde es interessant. Wohin mit mir? Die Berufsberatung schüttelte nur den Kopf. Da lag eine größere Behinderung vor, und man müsste erst einmal den Grad der Behinderung ermitteln. Nun gut, der beträgt 100 Prozent. Damit Arbeit zu finden! 100-prozentige Schwerbehinderung, keine öffentliche Busverbindung weit und breit, der Führerschein wurde mir verwehrt. Ich wurde in dem Jahr ja schon 18, und ein halbes Jahr hätte ich mit Hilfe meiner Familie überbrücken können. Da ich aber nicht die körperliche Reife einer Achtzehnjährigen hatte, wurde mir der für mich so wichtige Führerschein verwehrt. So besuchte ich die Hauswirtschaftsschule. Anschließend war ich ein Jahr zu Hause und dann machte ich den Realschulabschluss hinterher.

Es war eine schwierige Zeit. Vom Arbeitsamt wurden auch nur Angebote aus Niedersachsen vermittelt und die waren für mich aufgrund der Verbindungen einfach nicht erreichbar. Die Alternative wäre ein Behindertenheim. Nach der Realschule besuchte ich die Höhere Handelsschule in Minden. Die Busverbindung war zwar auch nicht ideal, aber noch machbar. Plötzlich ging es. Zur Schule war es kein Problem nach Nordrhein-Westfalen vermittelt zu werden. Aber zum Arbeitsplatz?

Während dieser Zeit hatte ich auch ein Gespräch bei der Berufsberatung für Schwerbehinderte in Minden. Das heißt, nach Minden kam jede zweite Woche jemand vom Arbeitsamt Herford, der die Schwerbehinderten in Minden betreute. Dieser monierte dann auch, dass ich so spät kam. In Minden gäbe es eine Organisation, die sich speziell auf schwer vermittelbare Jugendliche konzentrierte. Man wollte sehen, was man für mich tun könnte. Diese Organisation bestand damals aus mehreren Firmen im Kreis, die in verschiedenen Berufen ausbildete. Es waren große und kleine Firmen. Die kleinen Firmen konnten vielleicht nur einen Teil der notwendigen Anforderungen für den Beruf beisteuern, so musste der andere Teil eben in einer großen Firma gemacht werden. So war es bei mir. Ich bekam einen Ausbildungsplatz als Industriekauffrau.

Mit der Zuweisung des Arbeitsplatzes in Porta Westfalica ergaben sich im ersten Moment doch gewaltige Beförderungsprobleme. Doch mit ein bisschen Nachfrage hatte ich es sehr gut. Ich wurde von Privat zu Hause abgeholt und wieder hingebracht. Die Firma ließ sich auf eine etwas andere Arbeitszeit ein.
Für mich war es ganz gut, zuerst in einer kleinen Firma zu sein. So bekam ich doch einen überschaubaren Blick für die Tätigkeiten. Es war alles so anders, und ich wollte mir die Chance ja auch nicht vermasseln. Von den KollegInnen trennten mich Welten. Obwohl das an mir lag. Ich hatte kein Selbstvertrauen und fühlte mich als Außenseiterin. Die ich dadurch ja auch war.
Dann kam der letzte Teil der Ausbildung in einer großen Firma. Dort war alles für mich unübersichtlich, und ich fühlte mich noch mehr als Außenseiterin. Das, trotz der vielen Azubis, die wir dort waren. Ich fand kaum Anschluss, war für die anderen wohl einfach zu schwierig. Zumal ja auch nach der Arbeit einige Aktivitäten stattfanden, an denen ich nicht teilnehmen konnte, weil einfach keine Fahrverbindung bestand. Dadurch, dass ich kein Selbstvertrauen hatte, nicht ans Telefon ging, wenn es läutete, und auch sonst nur genau nach Anweisung handelte, um ja nichts falsch zu machen, hatten es die AusbilderInnen und KollegInnen sehr schwer. Grundsätzlich kann man vielleicht sagen, es bestanden auf beiden Seiten erhebliche Berührungsängste.

Kurz vor Ende der Ausbildung kam ich in eine Abteilung, in der der Abteilungsleiter einen Sohn hatte, der sehr schwerhörig war. Er kannte sich also mit Behinderung aus. Dieser Abteilungsleiter hat mich sehr gefördert. Immer wieder gab er mir Aufgaben, machte mir Mut und unterstützte mich, wo er nur konnte. So habe ich es eigentlich ihm zu verdanken, dass ich nach langem Hin und Her endlich in der Firma übernommen wurde. Zuerst gab es die Zeitverträge, in denen er mich in seiner Abteilung unterbrachte, oder ich in einer anderen Schwangerschaftsvertretung machte.
 
Nach der Ausbildung setzte mich dieser Abteilungsleiter unter Druck, es doch noch mal mit dem Führerschein zu probieren. Ich hatte keine Argumente es nicht zu tun und so begann ich wieder mit Fahrschule. Die Fahrschule, die ich konsultiert hatte, war allerdings nicht die richtige. Sie war nur auf das Geld aus. Ich wechselte dann zu einer anderen, die auch mit behinderten Menschen schon Erfahrung hatte. Dort klappte es. Welch‘ große Erleichterung in allen Lebensbereichen! Die schriftliche Prüfung hatte ich ja sofort beim ersten Mal geschafft. Sogar mit null Fehlern. Nur in der Praxis gab es Probleme. Wen wundert’s?
 
Die letzte Zeit einer meiner Zeitverträge verbrachte ich in dem Bereich des Abteilungsleiters. Allerdings nicht direkt bei ihm. Es war die schlimmste Zeit meines bisherigen Berufslebens. Der zuständige Chef dort nutzte meine Behinderung aus, um sich über mich zu profilieren. Er machte mich dauernd nieder und nichts konnte ich ihm Recht machen. Dann strafte er mich mit Verachtung beziehungsweise Nichtachtung. Es war ätzend. Nach einem halben Jahr war der Vertrag zu Ende. Ich hatte meinen Ausstand gegeben und war eigentlich schon so gut wie arbeitslos. Die Personalabteilung und der Betriebsrat bemühten sich wirklich, wie immer, wenn es sich um mich drehte.
Auch diesmal waren sie erfolgreich. Ich bekam noch eine Chance in einer ganz anderen Abteilung. Aber eines schwor ich mir damals: Was immer auch kam, solche Demütigungen, wie ich sie in der letzten Abteilung erlebt hatte, wollte ich nicht wieder erleben. Ab jetzt würde ich meinen Mund eher aufmachen. Und das tat ich auch.
 
Das ist allerdings positiv gemeint. Denn mit der Abteilung hatte ich es wirklich gut getroffen. Wenn auch ein ziemlich rauer Umgangston herrschte. Es war doch guter Wille, Geduld und Sympathie da. So nach und nach taute ich auf. Es dauerte zwar noch ziemlich lange, bis ich in die Nachbarabteilungen ging, mit denen wir viel zu tun hatten, aber meine Vorgesetzte ließ nicht locker. So blieb mir nichts anderes übrig, und auch den KollegInnen aus den Nachbarabteilungen blieb nichts anderes übrig.
 
Heute bin ich immer noch in dem Bereich beschäftigt. Wir haben viel miteinander erlebt. Als gravierend möchte ich die Zeit meiner zweiten Operation erwähnen. Die Unterstützung der KollegInnen war einfach hervorragend. Danach änderte ich mein Leben und meine Einstellung zu meinem Leben. Dadurch, dass sich meine Lebenserwartung verbessert hatte, konnte ich wieder Pläne machen und wollte dementsprechend sorgfältiger mit mir umgehen. Damit hatten die KollegInnen allerdings Probleme. Auch für mich war es nicht leicht. Ich konnte nicht in meine alte Haut zurück und die Neue musste noch gefestigt werden. Es gab viele Diskussionen. Ich war nicht mehr die, die ich vorher war, und dass da Differenzen auftreten ist logisch. Inzwischen gibt es diese Differenzen nicht mehr. Meine Persönlichkeit ist akzeptiert. Und auch arbeitsmäßig kann ich mich vertreten. Meine Veränderung ist deutlich sichtbar. Aber auch bei den KollegInnen sind positive Veränderungen, und sei es durch eigene Erfahrungen, bemerkbar. Nicht nur mir gegenüber, sondern in vielen verschiedenen Bereichen. Meine Behinderung spielt längst keine Rolle mehr.
 
Dies ist nun meine Geschichte. Sie ist ein positives Beispiel von Integration. Ohne die Unterstützung meiner Vorgesetzten wäre das sicherlich nicht möglich gewesen.
Das ist aber auch ein Punkt, der mir ein wenig Angst macht. Denn in der heute so schnell-lebigen Zeit befürchte ich, dass solche schönen Erfahrungen eher selten sind. Einfach, weil keine Zeit da ist. Davon sind wir ja alle in unseren ganzen Lebensbereichen betroffen.
 
Seit mittlerweile vier Jahren gehöre ich zu den Fittingen, einer Arbeitsgemeinschaft behinderter und nichtbehinderter Menschen. Wir möchten aufmerksam machen, schauen, wie die Verhältnisse sind. Was möglich, was machbar ist. Auf Missstände hinweisen und ihnen entgegen wirken. Aber auch zu zeigen, welch‘ positive Ergebnisse man haben kann.
 
Gisela Mörling im April 1999
 
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